[Triggerwarnung: Der vorliegende Beitrag enthält Formulierungen von sexuellen Handlungen | Ab 18 Jahren]
Preußen war zum Ende des 19. Jahrhunderts zerrissen zwischen den mittelalterlichen Vorstellungen und der Industrialisierung. Die Bewirtschaftung der adligen Güter durch die ewig armen Bauern und die Abschaffung der Abgaben an den Adel und die Kirche lagen gerade erst ein, zwei Generationen zurück. Das Königreich Preußen stellte den Kaiser des Reichs und hatte damit das höchste Amt im Reich inne. Das zentrierte die Macht mit all seinem Prestige in Berlin.
Preußens Machtelite verwies auf preußische Tugenden und pochte auf Zucht, Ordnung, Bescheidenheit, Gottesfürchtigkeit und ein Streben nach Selbstdisziplin. Diese Moralvorstellungen, welche sie so forsch vertraten, hätten dem herrschenden Adel nicht gleichgültiger sein können. Allein den Anschein zu wahren, war die höchste Kunst im Staate.
Die Ehre galt damals als inoffizielle Währung, die nur der Adel erwerben oder verlieren konnte. Doch Moral und Ehre waren im preußischen Kaiserreich auch mit dem Gesetzbuch verknüpft. Der Ehebruch stand in diesen protestantischen Tagen unter Strafe. Sechs Monate Gefängnis konnte das im schlimmsten Fall bedeuten. Weit höhere Strafen wurden gegen Schwule verhängt. Dabei waren es nicht nur bis zu fünf Jahre Zuchthaus, es war auch der Verlust von Ehre, welche in diesen Tagen mehr bedeutete als so manches Leben.
In dieser rigiden Zeit protestantischer Moralvorstellungen machte die Crème de la Crème der höfischen Gesellschaft einen Ausflug ins Jagdschloss Grunewald. Schon der Erbauer des Jagdschlosses Grunewald, Kurfürst Joachim II., frönte dem Lustvollen. Aber die Bühne solcher Ausschweifungen erlebte diese Gemäuer wohl erst im 19. Jahrhundert.
Diese pikante Geschichte, die bis an die Öffentlichkeit drang, fand im Januar des Jahres 1891 statt. Die preußische Hofgesellschaft reiste im Schlitten durch den Grunewald an. 15 Männer und Frauen des Hofadels tun das nicht zum ersten Mal und ungewiss ist, wie oft sie es in diesen Gemäuern taten. Der Alkohol floss und die Schickeria des Berliner Hofs gab sich nackt einander hin.
Mit von der Orgie waren beispielsweise die Schwester des letzten Kaisers, Charlotte von Preußen, der Graf und spätere König von Finnland, Friedrich Karl von Hessen, des Kaisers Schwager Herzog Ernst Günther von Schleswig-Holstein – der als ‚Herzog Rammler‘ bekannt war, oder das Ehepaar Gräfin und Graf Hohenau. Die Liste reichte vom Hochadel bis zu den niederen Adelsständen. Übrigens war der Schwager des Kaisers ein bekannter Bordellgänger. Das war auch in der Öffentlichkeit bekannt, denn er verlor seinen Orden im Bett einer Prostituierten. Und im gräflichen Haus der Hohenaus in Kreuzberg gab es manch berauschende Party und offenbar viele Eskapaden. Und obwohl auch die Polizei davon Kenntnis genommen haben musste, blieb sie untätig. Trotz des Verbots von Homosexualität war das am Hof Wilhelm II. keine Ausnahme. Die Moral der Elite dieser Tage der Sozialistengesetze galt nur für das gemeine Volk.
Der Tabus entledigt, versuchten sich die Adeligen in verschiedenen Stellungen, und das in verschiedenen Konstellationen. Jede und jeder vergnügte sich nach seiner Façon – gleichgültig der preußischen Moralgesetze. Es gab homosexuelle Praktiken, es gab Gruppensex – es war eine Orgie unter Hirschgeweihen und Jagdtrophäen. Darunter ergab sich beispielsweise die Gräfin von Hohenau dem Begehr mehrerer Männer. Ihr Mann, der dem Treiben beiwohnte, störte das wenig. Er interessierte sich für die Männer. Das war auch hinlänglich bekannt. Wohl deshalb gab sich die Gräfin Hohenau der Freizügigkeit hin. Sie zierte sich nicht, ihre Reize einzusetzen. Und, glaubt man den späteren Erzählungen, war sie gerne bereit, ihr Bett zu teilen.
Nach der Wolllust entschwand der bumsfidele Adel wieder dem Renaissanceschloss. Es war eine von offenbar vielen solcher enthemmter Treffen des kaiserlichen Hofs. Doch schon am nächsten Tag zogen dunkle Wolken über das frivole Treiben.
Während man wieder den höfischen Moralvorstellungen entsprach und vielleicht noch über das Erlebte tuschelte, erreichten ominöse Briefe mehrere Beteiligte. Schwarz auf weiß standen darin die Ausschweifungen des gestrigen Abends. Wer mit wem den Geschlechtsverkehr vollzog, wer wessen Genital befriedigte und was die Vorlieben der Männer und Frauen der Hofgesellschaft wären. Illustriert waren die Briefe der Peinlichkeit mit pornografischen Darstellungen. Sie waren gemalt oder es handelte sich um Fotografien, wobei die Köpfe der Teilnehmenden darauf montiert waren. Es war eine drohende Blamage, die nicht nur die Beteiligten in die Bredouille brachte. Das Königshaus selbst würde durch Bekanntwerden Schaden nehmen.
Doch fehlte dem Brief jeglicher Hinweis auf die Identität des Verfassers oder der Verfasserin. Und wie weit würde er oder sie gehen? Die Zahl derjenigen, die solche Briefe empfingen, ging stetig nach oben. Immer mehr Mitglieder des Hochadels erhielten Briefe, in denen die pikanten Details der Orgien geschildert wurden. Gleichzeitig wurden die Beteiligten mit Spott und Hohn überzogen und der Autor oder die Autorin lästerte über die Intrigen der Hofgesellschaft. Die Gesetze, die elitäre Stellung der Betroffenen und nicht zuletzt der Kaiser erlaubten es nicht, die Behörden einzuschalten.
Der Kreis der Eingeweihten erhöhte sich mit der Zeit. Erst wussten es weite Teile des Hauses Hohenzollern, bald war das vom Adel dominierte Militär informiert und schließlich drangen die schlüpfrigen Geschichten ans Licht der Öffentlichkeit. Der Inhalt wurde auch deshalb bekannt, weil es adelige Sitte war, die erhaltenen Briefe bereits geöffnet vorzufinden. Die Artikel in der Presse sparten nicht mit Hohn und Schadenfreude. Der Vorwurf der Orgie lastete schwer auf dem Image des Hauses Hohenzollern. Selbst im Reichstag wurde der Skandal debattiert.
Der Kaiser war düpiert und alles andere als amüsiert darüber. Dabei war er selbst offenbar den sexuellen Ausschweifungen zugetan. Offenbar ließ er sich gerne von mehreren Frauen verwöhnen. Er schrieb einigen Damen der käuflichen Liebe sogar Liebesbriefe, und wie bekannt wurde, mochte er es gefesselt. Der Ehebruch war nach den preußischen Gesetzen eine strafbare Handlung, ausgeführt vom höchsten Mann im Staat. Eine beispiellose Intrige am Hof, die sich bis zum Politikum ausweitete. Das Geheime Preußische Staatsarchiv bewahrt heute noch 246 dieser Briefsendungen auf.
Das Drängendste war, dem oder der Verfasser*in Einhalt zu gebieten. Allein die Frage, wer es war, stellte die Hofgesellschaft vor ein Problem. Die detaillierten Schilderungen, die deftige Wortwahl und die Bilder wurden das ganze Jahr hinweg weiter zugestellt. Aber die Identität des Pornobriefschreibers blieb geheim.
Die Briefe schienen sich auch im besonderen Maße gegen Gräfin von Hohenau zu richten. Ihr wurden Geschlechtskrankheiten nachgesagt. Wollte womöglich eine Schreiberin die Konkurrenz diskreditieren?
Es wurden Grafologen herangetragen. Sie sollten Auskunft über die Quelle geben. Einer von ihnen war der Schriftanalyst Langenbruch. „Krankhaft weibisch veranlagt“ und eitel, sollte nach dessen Gutdünken der Verfasser sein. Allein aufgrund dieser Aussage grenzte man den Kreis der Verdächtigen auf eine Person ein. Unter dieser Beschreibung sahen viele den Zeremonienmeister Leberecht von Kotze. Sein Faible für Mode, seine Art, sich zu kleiden, galten im damaligen Preußen als weibisch. Da er den Dienstrock nicht vorschriftsmäßig trug, sagte man ihm Eitelkeit nach. Ironischerweise war es Aufgabe eines Zeremonienmeisters, die Einhaltung der Etikette und die Geschlechtertrennung bei öffentlichen Anlässen zu überwachen.
Im Jahr 1892 informierten einige Betroffene schließlich die Polizei über die Rufschädigungen. Den Fall übernahm ein Kommissar Tausch. Er sah den Schuldigen in Herzog Ernst Günter von Holstein. Außerdem stellte er die These auf, dass es zu Beginn ein anderer Täter gewesen sein könnte. Um den Täter zu überführen, ließ die Polizei ein paar Löschblätter entwenden und gab an, dort Namen der Orgienteilnehmenden im Grunewald verifiziert zu haben. Eine solche Anschuldigung gegenüber einem Herzog verbat sich dieser, sodass die Ermittlungen stockten.
Einige ertappte Mitglieder der Party, der sogenannte Hohenau-Schrader-Kreis, wollten die Sache nun selbst in die Hand nehmen. Sie waren von der Schuld des Zeremonienmeisters Leberecht von Kotze überzeugt und suchten Beweise für die Schuld jenes Mannes, nach dem der Skandal benannt wurde. Nach dem Vorbild der polizeilichen Trickkiste griffen sie auf die Löschblattsammlung des Zeremonienmeisters zu. Auch hierauf fanden sich Namen der Beteiligten der Orgie.
Immer mehr Betroffene sahen – bar jeglicher Beweise – die Schuld bei dem für weibisch gehaltenen Zeremonienmeister. Trotz der Ermangelung von Belegen konnten sie weitere Personen von der Schuld Kotzes überzeugen und dazu gehörte auch Kaiser Wilhelm II.
Am 17. Juni 1894 wies der Kaiser von Hahnke an, Kotze verhaften zu lassen. Doch die Serie der Briefe ging weiter, was Kotzes Unschuld offenkundig machte. Es wurde sogar ein Drohbrief zur Freilassung an den Kaiser verschickt. Deshalb wurde Kotze nach einer kurzen Haft wieder auf freien Fuß entlassen.
Doch der Kaiser gab nicht auf. Weitere Ankläger wurden berufen und neue Anklagen erreichten den Hofbeamten von Kotze. Doch dieser konnte erneut seine Unschuld darlegen. Der Ankläger, Prinz-Friedrich von Hohenzollern-Sigmaringen, holte sich Verstärkung und schickte sich an, Kotze die Tat nachzuweisen. Nach über 1.000 Seiten Berichte fand man nichts, das man Kotze hätte zur Last legen können. Nach einem Jahr der juristischen Repression wurde er freigesprochen. Doch das Spiel war noch nicht vorbei.
In der Forschung kursieren Namen von Verdächtigen, die nicht belegt oder verworfen werden können. Darunter Herzog Ernst Günther von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg wegen seines Lebenswandels oder Charlotte von Meiningen wegen ihrer Feindschaft gegenüber der Gräfin Hohenau. Das Motiv könnte sowohl der Missgunst als auch der Eifersucht erwachsen sein.
Der Kaiser verfügte, die Kotze-Verschwörer mögen sich entschuldigen. Doch drei davon verweigerten sich dessen. Kotze war darüber so wütend, dass er alle zum Duell herausforderte. Gemäß eines beschlossenen Agreements sollte schließlich nur einer zur Satisfaktion im Duell antreten. Es war aber nicht der Intimfeind Kotzes, Baron von Schrader, sondern Hugo von Reischach.
Im Morgengrauen des Karfreitags, dem 13. Aprils 1895, standen sich Reischach und Kotze bei Halensee gegenüber. Acht Schüsse wurden ausgetauscht, bis Kotze verwundet wurde. Der verletzte Zeremonienmeister gesundete im Krankenhaus. Doch Kotzes Martyrium war noch nicht zu Ende.
Das Husarengericht entließ den Zeremonienmeister 1895 unehrenhaft aus dem Dienst. Der Kaiser erklärte das Urteil gegen Kotze für nichtig. Nun holte Kotze zum juristischen Gegenschlag aus. Er klagte gegen Schrader, der ihn augenblicklich zum Duell herausforderte. Doch Kotze lehnte mit Verweis auf den Prozess ab.
Das reichte ihm bei einem anderen Gericht zum Nachteil. Hier bezichtigte man ihn der Duellverweigerung, was ihm die Ehre kostete, und bestätigte den Rauswurf. Erneut warf sich der Kaiser in die Arme der Justiz und Kotze erhielt lediglich eine Verwarnung. Damit war seine Ehre gerettet. Damit ausgestattet, warf Kotze den Fehdehandschuh ins Gesicht seines Erzfeindes Schrader.
Ein weiteres Duell wurde anberaumt. Kotze war ein guter Schütze, daher trainierte Karl von Schrader seine Schießkünste. Als der Tag gekommen war, traf Kotze unter den Augen vieler Schaulustiger seinen Widersacher empfindlich in der Bauchgegend. Schrader erlag am nächsten Tag den schweren Verletzungen. Eine öffentliche Trauerfeier konnte der Familie Schrader aber wegen des großen Medienspektakels nicht zugestanden werden.
Wegen der Tötung erhielt Kotze Hausarrest und wurde nach kurzer Zeit vom Kaiser begnadigt. Über Jahre kämpfte Kotze mit diesem Skandal und verlor auch seine Ehe darunter.
In der Konsequenz diskutierte man die Verfolgung von Duellen. Aber es kam im Zusammenhang mit dem damals widersittlichen Verhalten auch zu einigen Entlassungen am Hofe. Andere flüchteten, da ihre sexuellen Neigungen nun offenkundig geworden waren. Einige Menschen richteten sich deshalb auch selbst. Kotze starb 1920 in Berlin.
KgU ist ein besonderes Kürzel der Spionagetätigkeit des Kalten Kriegs. Einst genoss diese Organisation großes…
Der kleine Ort Sputendorf liegt rund fünf Kilometer südlich von Stahnsdorf, deren Gemeinde es auch…
Warum die Bücher des Standesamts die Initialzündung der Bevölkerungsstatistik sind und über die Geschichte der…
Das Teltower-Rübchen-Bild und ich. Eine Anekdote über den Artikel zum Rübchen, wie sie nur das…
Die Renaissance des Teltower Rübchens nach dem Zweiten Weltkrieg gelang dank des Einsatzes des Teltower…
Wenn die Weihnachtsmärkte beginnen, wird das Weihnachtsfeeling geweckt. Und es geht los! Die besinnliche Adventszeit…
View Comments
wer war der verfasser*in guter deutsch...
heißt Fehdehandschuh,
sonst schon ein wenig interessant, und interessant geschrieben. Danke
Ah! Danke! Auch für das Kompliment!